Die Fotografin Tanja Demarmels hat in Vietnam die Son-Doong-Höhle besucht. Sie ist so gross, dass sogar eine Boeing 747 darin landen könnte.
Die ersten Kilometer der Paradise Cave, der ersten Höhle, die ich in meinem Leben betrete, sind gut ausgeleuchtet. Eine scheinbar endlose Holztreppe führt direkt in den Bauch der Höhle, die im Phong-Nha-Nationalpark in der Mitte von Vietnam liegt. Der Weg ist gesäumt von riesigen Stalagmiten und andere Steinformationen, die im Kegel des Scheinwerferlichts mystische Formen annehmen. Die zahlreichen Touristen sind begeistert und knipsen so lange, bis sie das Gefühl haben, endlich die unendliche Dimension der Grotte auf ihren Kamerachip gebannt zu haben.
Am Fuss der Treppe erahnt man im Halbdunkel einen Steg, der schnurgerade in eine unheimliche Dunkelheit führt. Ich war fasziniert und neugierig – wie geht es im Schwarz weiter, wie fühlt sich das Leben im Innern eines Berges an? Das Höhlenfieber hatte mich befallen.
11 Monate später stand ich verschwitzt, mein erster Blutegelbiss bereits verarztet, mitten im Dschungel vor einem Abgrund und starrte mit klopfendem Herzen ins Schwarze. Ich sah nichts. Aber ich hörte! Ein gewaltiges Rauschen vom Wind und vielleicht auch vom Fluss weit unter mir. Dieser Hall vermittelte einen ersten Eindruck von der unvorstellbaren Grösse von Son Doong. Ein Eindruck, der sich zusätzlich verstärkte, als wir uns 80 Meter in die pechschwarze Tiefe abseilten.
Jedes Jahr erteilt die zuständige Provinzregierung 500 Touristen aus der ganzen Welt eine Bewilligung, die Son-Doong-Höhle in einer Gruppe zu erkunden. Ich werde mit neun anderen Menschen fünf Tage in der Höhle verbringen. Der Ausflug kostet 3000 Franken – Flug und biologisch abbaubare Waschutensilien exklusiv.
Nach einem Tagesmarsch durch Dschungel und Flüsse sind wir beim ersten Camp in der Hang-En-Höhle angekommen. Die Zelte stehen idyllisch an einem unterirdischen Sandstrand mit zwei natürlichen Pools, einer mit warmem und einer mit kaltem Wasser. Tausende von Schwalben fliegen in die Höhle und stiften die Musik zu einem grossartigen Abendessen, das die Träger uns gekocht haben. So müssen Camps im Paradies aussehen.
Am nächsten Morgen geht es früh weiter. Wir durchqueren Hang En, dessen Ausgang als Kulisse für «Never Never Land» im neusten Peter-Pan-Film diente. Eine gute Wahl, denke ich und komme mir vor wie in einem Disney-Film. Tausende Schmetterlinge tanzen hintereinander in Reihen über den Fluss, die Sonne scheint, hinter uns verklingt das Echo der Schwalben von Hang En.
Der Marsch bis zu den Nebelschwaden, die den Eingang von Son Doong markieren, ist anstrengend. Während des Gehens schweifen meine Gedanken immer wieder zum Team des britischen Höhlenforschers Howard Limbert. Sie hielten 2008 nach genau dieser Wolke Ausschau, als sie dem Einheimischen Ho Khanh folgten, der 1990 als Jugendlicher Zuflucht vor einem Unwetter suchte, und so den Eingang einer grossen Höhle fand. Fast 2 Jahre versuchte er mit den britischen Höhlenforschern den Eingang wiederzufinden. 2009 zahlte sich die Geduld aus: Die Son Doong Exploration Expedition zeigte, dass Khanh die grösste Höhle der Welt entdeckt hatte.
Die Dimensionen sind schwer vorzustellen. Häuserblöcke mit 40 Stockwerken hätten Platz in der 200 Meter hohen und 150 Meter breiten Höhle. Man sagt, dass an der breitesten Stelle eine Boeing 747 landen könnte. Das Spezielle jedoch sind die zwei sogenannten Dolinen – Stellen, an denen die Decke eingebrochen ist. Durch diese Löcher dringen Licht und Leben in die Höhle ein.
Zu diesen Einbrüchen machen wir uns nach dem abenteuerlichen Abstieg im Dunkeln auf. Unsere Stirnlampen sind zwar stark, aber die feuchte Luft wirft das Licht ähnlich wie ein Aufblendlicht im Nebel zurück. Wir klettern konzentriert über messerscharfe Felsbrocken. Ein gebrochener Knöchel wäre fatal hier.
Plötzlich taucht ein geisterhafter Lichtschimmer in der Distanz auf. Langsam beginnen wir die Dimensionen zu erahnen. Vor uns taucht die Silhouette eines beachtlichen Stalagmiten auf, der stolze 80 m in die Höhe ragt. Dahinter, weit weg, «Hand of Dog», ein speziell geformter Stalagmit, der in meinem Augen mit einer Hundepfote herzlich wenig gemein hat. Gerüchten zufolge wollte der Entdecker die Formation «Hand of God» taufen, es soll sich aber – je nach Erzähler absichtlich oder unabsichtlich – ein Tippfehler eingeschlichen haben.
Dahinter glitzern winzige Farbtupfer in der Distanz, die Zelte des zweiten Camps, direkt unter der Doline mit dem stimmigen Namen «Watch out for Dinosaurs». In der Mitte des Durchbruchs erhebt sich eine von der Natur geformte grün bewachsene Spirale zum Himmel. Wir haben Glück, an diesem Tag scheint die Sonne, und wir werden Zeuge eines fantastischen Naturspektakels. Die Sonnenstrahlen wandern durch das Loch in der Decke und erleuchten die unwirkliche Szenerie, die jeder Fantasy-Film-Kulisse die Schau stellen würde.
Aber Son Doong hat noch mehr zu bieten. Abgesehen von einem eigenen Wolkensystem kann die Höhle mit ihrem eigenen unterirdischen Dschungel auftrumpfen, dem «Garden of Edam». Umringt von senkrechten Kalksteinwänden, wächst im vulkankraterähnlichen Durchbruch ein dichter Urwald. Die Höhle sei 3 Millionen Jahre alt, und ich kann mir vorstellen, dass damals die ganze Welt genau so ausgesehen hat.
Unser drittes Lager schlagen wir unterhalb des Durchbruchs auf, wo tief hängende Nebelschwaden eine gespenstiges Bild bieten. Nun sind es noch 1,5 Kilometer bis zur «Great Wall of Vietnam», einer senkrechten Wand, die das Ende von Son Doong markiert. Wir waten in Einerreihe in absoluter Dunkelheit durch kniehohen Lehm. Rechts und links von uns wachsen meterhohe Lehmmauern in die Höhe. Hier haben sie bisher 5 unbekannte, albinoähnliche Spezies entdeckt, die sich an ihre lichtlose Umgebung angepasst haben.
Hier treffen wir auch auf «hairy scary Mary», ein riesiges, spinnenähnliches Insekt der Gattung Tausendfüssler. Ich bin froh, dass es lichtscheu ist, und schalte meine Stirnlampe etwas heller.
Es lohnt sich sowieso, die Gegend mit dem Licht immer wieder zu erkunden. So kann man auch die tennisballgrossen Höhlenperlen nicht übersehen, die wie von einem Dekorateur drapiert in ihren Pools liegen.
Höhlenperlen bilden sich, wenn Wassertropfen in eine Vertiefung fallen und sich Kalzitkristalle um Sedimentpartikel legen. Durch die ständige Bewegung des Wassers wird dieses Korn stetig gedreht. Dabei werden langsam Schichten von Kalksinter angelagert, und es entsteht eine Kugel.
In dieser letzten Nacht in der Höhle drehe ich mich im Zelt so, dass ich den Deckeneinbruch immer im Blickfeld habe. Ich hoffe auf eine sternenklare Nacht, leider vergebens. Dunkle Wolken drängen sich über der Öffnung, es ist gespenstisch. Jemand hat mir von einem geheimnisvollen Tier erzählt, das pünktlich um 3 Uhr in der Früh zu hören, aber niemals zu sehen sei. Tatsächlich wache ich um 3.04 Uhr durch ein Geräusch auf. Ich höre den Schlag des Flügels und gleich danach einen tüchtigen Windrausch. Es muss sich um etwas Grosses handeln. Das Geräusch kommt näher, verschwindet wieder, dreht seine einsamen Runden. Ich schaue zum grauen Loch über mir und bin fest davon überzeugt, dass es sich dabei um einen Flugsaurier handelt.
Text und Bilder von Tanja Demarmels, Gebloggt von Julian Rüthi